Von Bindungstrauma zu Trauma Bindung – Einsamkeit zu zweit 

Teil 1

„Ich bin nur noch ein Schatten meiner Selbst.“
„Es fühlt sich an, als würde ich innerlich sterben.“

„Ich erkenne mich nicht mehr.“
„Ich bin plötzlich aggressiv – dabei war ich früher nie so.“
„Früher war ich selbstbewusst, doch diese Beziehung hat mich zerstört.“
„Ich habe nie jemanden kontrolliert, aber irgendetwas in mir hat mich dazu getrieben, sein/ihr Handy zu durchsuchen – das bin nicht ich.“
„Ich kann ohne ihn/sie nicht mehr leben.“
„Warum schaffe ich es nicht, mich zu trennen?“
„Ich weiß nicht mehr, was ich fühle.“
„Warum tut es so weh?“

Diese Sätze sind typische Gedanken von Menschen, die in einer Trauma-Bindung gefangen sind – sei es in der Beziehung oder nach einer Trennung. Der Schmerz fühlt sich unerträglich an, die Trennung fast lebensbedrohlich. Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, emotionale Lähmung und das Gefühl, nicht verstanden zu werden, bestimmen den Alltag.

Doch warum ist das so? Warum hält uns eine Beziehung, die uns schadet, so fest in ihrem Griff? Und warum geraten wir überhaupt in so eine Beziehung?

In diesem Artikel möchte ich tiefgehend beleuchten, wie unsere Bindungsmuster und Bindungsstrategien entstehen und warum wir immer wieder in ähnliche Beziehungsstrukturen geraten.

Dabei geht es nicht nur um äußere Umstände, sondern vor allem um innere Prozesse: Was geschieht in uns, wenn wir in solchen Momenten alles andere vergessen? Warum fühlen sich diese Begegnungen so intensiv und unausweichlich an? Welche unbewussten Mechanismen führen dazu, dass wir uns immer wieder in denselben Dynamiken wiederfinden?
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Zwischen Authentizität und Zugehörigkeit – Der Bindungskonflikt

Mit unserer Geburt betreten wir ein System: unsere Familie. Jede Familie funktioniert wie ein Drehbuch, in dem jede*r eine bestimmte Rolle übernimmt. Diese Rollen entstehen nicht immer freiwillig, sondern sind oft von den unausgesprochenen Erwartungen und Bedürfnissen der Eltern bzw. der engsten Bezugspersonen geprägt. Sie fordern von uns, so zu sein, wie sie es brauchen – nicht unbedingt, wie wir wirklich sind.

In dieser frühen Lebensphase stehen wir als Kinder vor einem existenziellen Dilemma: Authentizität oder Bindung? Authentisch zu sein bedeutet, unseren Gefühlen, Bedürfnissen und Impulsen zu folgen. Doch wenn dies die Nähe und Liebe unserer Eltern gefährdet, bleibt uns keine andere Wahl, als uns anzupassen. Denn Bindung ist überlebenswichtig.
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Staffel 1: Die Kindheit

Alles begann an jenem grauen Tag,
an dem du aufhörtest, stolz
„Ich bin!“ zu sagen.
Und beschämt und ängstlich
senktest du den Kopf
‚und ändertest deine Worte und dein Handeln
gemäß den Gedanken:

„Ich sollte sein!“
Jorge Bucay / „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“

Die Kindheit als erste Staffel einer Sitcom zu betrachten, in der wir in eine Rolle hineingeworfen werden, die nicht unbedingt unserer wahren Natur entspricht, sondern von den Erwartungen unserer Eltern geprägt ist, macht das Konzept von Trauma-Bonding sehr greifbar.


Lassen Sie uns das Bild noch weiter ausbauen:

Drehbuch und Regie: Unsere Eltern, frühere Generationen und die Gesellschaft, in der wir aufwachsen, wirken wie Drehbuchautoren. Sie schreiben das Skript mit ihren Erwartungen, Normen und Verhaltensweisen. Wir lernen unsere Rolle, indem wir beobachten, nachahmen und uns anpassen, um im „Plot“ der Familie oder Gesellschaft zu funktionieren. Unbewusst übernehmen wir die Regeln, die uns Zugehörigkeit versprechen.

Lachen aus dem Publikum: Wie in einer Sitcom, in der das Lachen aus dem Publikum eingespielt wird, um bestimmte Reaktionen zu lenken, erhalten auch wir Reaktionen auf unsere Emotionen. Diese Reaktionen – sei es Verstärkung oder Zurückweisung – zeigen uns, was „erlaubt“ ist und was nicht. So lernen wir, was von uns erwartet wird und was wir von uns zeigen dürfen, um akzeptiert zu werden.

Die unsichtbare Wand: In vielen Sitcoms gibt es eine unsichtbare „vierte Wand“, die das Publikum vom Geschehen trennt. Diese Wand lässt uns als Zuschauer das Geschehen beobachten, aber wir bleiben doch distanziert. In der Kindheit wird diese Wand zur Metapher für den wachsenden Abstand zu unserem authentischen Selbst. Wir spielen eine Rolle, während unser unverfälschtes Empfinden und unsere echten Bedürfnisse immer mehr in den Hintergrund rücken. So entsteht unbewusst ein existenzielles Dilemma: Um dazuzugehören, bleibt nur die Anpassung auf Kosten der eigenen Authentizität.


Das Selbst, das wir in der Kindheit nicht leben durften, um die Bindung zu unseren Eltern aufrechtzuerhalten, bleibt im Hintergrund – ungelebt, aber nicht vergessen. Tief in uns trägt es eine stille, aber starke Sehnsucht nach Anerkennung, danach, gesehen und gehört zu werden. Diese Sehnsucht ist der Wunsch nach Wiederverbindung mit unserem wahren Selbst, nach echter Validierung, die nicht an Bedingungen geknüpft ist.

Doch anstelle unseres authentischen Selbst entwickeln wir eine Rolle – eine angepasste Version von uns, die sich nach den Erwartungen unserer Eltern richtet. Mit der Zeit beginnen wir, uns mit dieser Rolle zu identifizieren. Unser Bewusstsein erkennt nicht, dass dahinter noch ein anderes, unverfälschtes Selbst existiert. Wir sehen die Welt durch die Brille dieser erlernten Anpassung, durch die übernommenen Sichtweisen unserer Eltern. Wir blicken nicht nur mit ihren Augen auf uns selbst – wir übernehmen auch ihre Wahrheiten, ihre Urteile, ihre Begrenzungen.

Tragisch ist, dass wir diesen ursprünglichen Überlebensmechanismus ins Erwachsenenleben mitnehmen. Wir reinszenieren dieses Bindungsverhalten in unseren Beziehungen – sei es in Freundschaften, Liebesbeziehungen oder im Beruf. Wir suchen oft unbewusst nach ähnlichen Dynamiken, weil sie vertraut sind, selbst wenn sie uns nicht guttun. So wiederholen wir die alten Muster, ohne zu merken, dass nicht die Welt, sondern die Linse, durch die wir sie betrachten, verzerrt ist – eine Linse, die nicht nur unsere Wahrnehmung filtert, sondern auch Projektionen erzeugt. Doch was wir für die Realität halten, ist oft nur ein Echo unserer Vergangenheit.


Staffel 2: Die Reinszenierung (Wiederholung)

Es beginnt Staffel 2: Beziehungen. Wir treten mit dem Skript aus Staffel 1 in neue Szenen ein. Wir wählen unbewusst Mitspieler*innen, die unsere alten Muster bestätigen, führen Dialoge, die uns vertraut sind, und erleben oft ähnliche Konflikte, weil wir nach den alten Drehbüchern handeln.

Die Begegnung beginnt mit dem Magic Moment, in dem die unsichtbare „Vierte Wand“ scheinbar verschwindet. Plötzlich tritt jemand in unser Leben, und zum ersten Mal haben wir das Gefühl, wirklich erkannt zu werden. Es fühlt sich an wie das Happy End von Staffel 1 – wie eine Befreiung.

Doch dann passiert etwas Entscheidendes: Die Euphorie verblasst  und plötzlich beginnt die eigentliche Handlung von Staffel 2. Nun müssen die Rollen neu verteilt werden und genau hier kehren die alten Skripte zurück.

Anna* und Lars* – Wenn Liebe zur Verstrickung wird

Anna war die Erste, die den Schritt in die Therapie wagte. Sie suchte nach Antworten und Orientierung, während ihre Beziehung zu Lars sich immer tiefer in Widersprüchen verstrickte. Der Halt, den sie einst darin fand, war ihr längst entglitten.

Sie fühlte sich überfordert und verloren. Selbst ihre Arbeit litt darunter. Ihre Schultern waren angespannt, ihre Hände fest ineinander verschränkt. Sie war Anfang 30 und eine erfolgreiche Ärztin, doch die Beziehung zu Lars hatte sich als die intensivste, aber auch schmerzhafteste Erfahrung ihres Lebens herausgestellt. Mit zitternder Stimme begann sie zu sprechen.

„Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Ich bin vollkommen erschöpft, als wäre ich in einem endlosen Albtraum gefangen. Mein Kopf ist ein einziges Chaos. Ich bin Ärztin und eine gute noch dazu. Ich wusste immer, was ich wollte, war selbstbewusst. Lars ist meine dritte Beziehung, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Seit unserem ersten großen Streit erkenne ich mich nicht wieder. Ich kann mich nicht konzentrieren, fühle mich wie betäubt. Selbst meine Arbeit leidet darunter. Ich halte das einfach nicht mehr aus. Es fühlt sich an, als würde ich zerbrechen. Und dabei hat doch alles so perfekt begonnen…“

*Namen von der Redaktion geändert


Einige Wochen später kam auch Lars. Doch ganz anders als Anna wirkte er zurückhaltend, fast abwesend.

Er saß steif auf dem Stuhl, als hätte er keinen Zugang zu sich selbst. Seine Gedanken schienen eingefroren. Auf die Frage, warum er hier sei, wusste er keine richtige Antwort. Eigentlich war er nur da, weil Anna es sich gewünscht hatte. Sie hatten Probleme in ihrer Beziehung, das wusste er, aber woran es genau lag oder wie er darüber sprechen sollte, blieb ihm unklar.

Früher war alles anders gewesen. Am Anfang fühlte sich die Verbindung leicht und selbstverständlich an, doch jetzt war da eine Schwere zwischen ihnen. Lars war hin und hergerissen. Sollte er bleiben? Sich trennen? Er wusste es nicht. Die Ambivalenz hielt ihn fest, als wäre er in einer Art innerem Stillstand gefangen.

Seine Stimme war kalt und emotionslos:

,,Ich glaube, ich liebe Anna, aber ich weiß nicht, was ich fühle. Ich habe mich schon ein paar Mal von ihr getrennt, bin aber immer wieder zu ihr zurückgegangen. Ich weiß selbst nicht was mit mir los ist, und was ich will. Ich weiß gar nicht was ich erzählen soll, ich bin irgendwie blockiert und in mir ist alles chaotisch. ’’


Die Faszination des Anfangs: Vertrautheit auf den ersten Blick

Anna und Lars hatten sich kurz vor dem ersten Corona-Lockdown über eine Dating-Plattform kennengelernt. Zunächst hatten sie wochenlang miteinander geschrieben, tiefgründige Gedanken ausgetauscht und ihre Sehnsüchte und Träume geteilt. Vom ersten Moment an fühlte sich alles unglaublich vertraut an, fast so, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen.

Als sie sich schließlich persönlich trafen, war es um sie geschehen. Die Verbindung war intensiv, fast magisch. Sie konnten nicht genug voneinander bekommen, verbrachten Stunden damit, sich ihre Lebensgeschichten zu erzählen, und fühlten sich auf eine Weise verstanden, die sie bisher kaum kannten. Alles passte perfekt zusammen, als hätte das Schicksal sie zusammengeführt.


Es ist, als würde man endlich mit seinem authentischen Selbst in Kontakt kommen. Die Trennwand, die unser wahres Selbst oft von der Welt trennt, scheint für einen Moment zu verschwinden. Wir fühlen uns gesehen und gehört, ohne etwas dafür tun zu müssen. Es ist eine magische Begegnung, in der alles leicht und im Flow zu sein scheint. Ein Zustand, in dem das Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe auf wundersame Weise erfüllt wird. In dieser Phase erleben wir, wie tief die Sehnsucht nach Anerkennung und das authentische Selbst nach Ausdruck verlangen, und es fühlt sich an, als hätte man endlich das Gefühl, angekommen zu sein.

 

Doch was geschieht, nachdem das vermeintliche Happy End erreicht ist? Wenn der Beginn einer Beziehung sich anfühlt wie das perfekte Finale einer ersten Staffel, voller intensiver Verbindung und dem Gefühl, endlich angekommen zu sein, beginnt, wie in jeder guten Geschichte, das nächste Kapitel.

Um zu verstehen, warum sich die Dinge später verändern, müssen wir jedoch zurückkehren, zurück zur ersten Staffel: der Kindheit. Denn das, was wir in unseren frühen Jahren erleben, prägt unbewusst die Art und Weise, wie wir Liebe suchen, wie wir uns binden und wie wir auf Beziehungen reagieren. Es sind die unsichtbaren Drehbücher, die die Grundlage für all unsere späteren Verbindungen bilden. Wer wir in dieser ersten Staffel sind, beeinflusst das Drehbuch, das wir später für uns selbst und unsere Beziehungen schreiben.

Zurück zu Staffel 1: Kindheit

Die Wurzeln der Bindung: Die ersten 18 Monate

In den ersten Lebensjahren bildet sich das Fundament für unser Vertrauen in die Welt und in die Menschen um uns herum oder eben das Gegenteil: Ein tiefes Gefühl der Unsicherheit. Diese frühen Bindungserfahrungen hinterlassen unauslöschliche Spuren in unserem Unterbewusstsein und prägen, wie wir später Beziehungen erleben und gestalten.

Laut John Bowlby entwickelt sich das Bindungssystem eines Kindes in den ersten 18 Monaten seines Lebens. In dieser Phase ist das Baby vollständig auf seine Bezugsperson angewiesen – sein Überleben hängt davon ab, dass jemand auf seine Signale reagiert. Bevor es überhaupt in Stressreaktionen wie Kampf, Flucht oder Erstarren (Fight-Flight-Freeze) übergeht, ist es primär darauf programmiert, Nähe zu suchen.

Dieses Bindungssystem ist so tief im Menschen verankert, dass ein Säugling bei Angst oder Stress nicht durch Flucht oder Rückzug reagieren kann. Stattdessen schreit er nach Nähe und Schutz.

Doch wenn diese elementare Suche nach Bindung unbeantwortet bleibt, aktiviert der Körper schließlich andere Überlebensstrategien: Das Kind erstarrt und beginnt, sich innerlich von seinem Geschehen abzukoppeln.

Wenn ein Kind über längere Zeit hinweg keine verlässliche emotionale Sicherheit erfährt, hinterlässt dies tiefe Spuren in seiner Psyche. Früh gestörte Bindungsmuster können den Nährboden für spätere emotionale Herausforderungen und Persönlichkeitsstrukturen bilden – etwa für Unsicherheiten in Beziehungen, selbstschädigende Verhaltensweisen oder psychische Belastungen wie narzisstische und Borderline-Muster bzw. komplexe posttraumatische Belastungsstörungen (kPTBS). Die Qualität dieser frühen Bindungserfahrungen prägt maßgeblich, wie wir später Nähe und Distanz empfinden und ob wir in Beziehungen ein Gefühl von Sicherheit entwickeln können.

Annas Kindheit: Schutz ohne wahres Selbst – Der schleichende Verlust der Authentizität

Annas Kindheit war, aus ihrer Sicht, eine glückliche Zeit.

Ich hatte eine wunderbare Kindheit“, sagte Anna. „Meine Eltern waren liebevoll und fürsorglich, sie haben sich immer um mich gekümmert. Es hat mir an nichts gefehlt. Bis heute verstehe ich mich großartig mit ihnen.

Sie wuchs in einem liebevollen, aber überbehüteten Umfeld auf, in dem ihre Mutter ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, jedoch auf eine Weise, die kaum Raum für Annas eigenes Erleben ließ. Ihre Mutter traf alle Entscheidungen für sie und übernahm so viel Verantwortung, dass Anna nie wirklich in Kontakt mit ihren eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen kam.

Auf den ersten Blick schien diese Fürsorge eine Quelle der Geborgenheit zu sein. Doch unter der Oberfläche entwickelte sich ein unsichtbares Muster: Anna lernte nicht, ihren eigenen Impulsen zu vertrauen oder selbstbestimmt zu handeln. Ihr authentisches Selbst mit all seinen Empfindungen und individuellen Ausdrucksformen blieb im Hintergrund, weil ihre Mutter stets vorgab, was „richtig“ war.

Wenn Anna eigene Entscheidungen traf oder Bedürfnisse äußerte, die nicht in das Bild ihrer Mutter passten, wurde sie oft unbewusst umgelenkt. Man verbot ihr nicht direkt, sie selbst zu sein, doch man brachte ihr auch nie bei, wie es sich anfühlt, eigenständig zu handeln oder auf sich selbst zu hören. „Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Sei nicht traurig“ waren häufige Sätze, die ihre Mutter benutzte, um Anna von ihren eigenen Gefühlen abzulenken. Auch das Vermeiden von Konflikten wurde auf diese Weise gefördert: „Wenn du traurig bist, ist Mama auch traurig“ oder „Sei nicht so laut bitte“ – Worte, die indirekt signalisierten, dass ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse weniger wichtig waren als das, was ihre Mutter für angemessen hielt. So verinnerlichte Anna unbewusst, dass Nähe und Geborgenheit immer mit Anpassung verbunden waren.

Diese unsichtbare Trennwand zwischen Anna und ihrem echten Selbst entstand also nicht durch Vernachlässigung oder Strenge, sondern durch eine liebevolle, aber kontrollierende Fürsorge. Tief in ihr wuchs eine Sehnsucht, eine Sehnsucht nach Selbstwahrnehmung, nach Unabhängigkeit und dem bedingungslosen Erleben des eigenen Selbst. Eine Sehnsucht, die viele Jahre später in Lars eine vermeintliche Erfüllung fand.

Für Anna stand schon früh fest, dass sie einmal Medizin studieren würde. Es war keine Frage des Abwägens oder Ausprobierens, es war einfach der natürliche Lauf der Dinge. Ihre Mutter hatte es immer wieder betont: „Du hast so viel Potenzial, du kannst so viel erreichen!“ Und Anna glaubte daran. Sie wollte eine ehrgeizige, zielstrebige Tochter sein, so wie ihre Mutter es von ihr erwartete. In ihren Augen gab es keine Alternative zu diesem Lebensweg, keine Notwendigkeit, sich zu fragen, was sie wirklich wollte, denn sie hatte nie gelernt, dass ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse eine Rolle spielten.

Wie Dr. Gabor Maté es beschreibt: „Als Kinder lernen wir, Authentizität für die Bindung zu opfern. Meistens unbewusst erkennt die Intelligenz unseres Körpers, dass wir, wenn wir auf unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse hören, die Bindung zu unseren Eltern gefährden könnten.“

Also tat Anna das, was sie immer getan hatte: Sie erfüllte die Erwartungen, die an sie gestellt wurden und nahm sie als ihre eigenen an, ohne zu hinterfragen, ob dieser Weg wirklich ihr Weg war.

So wuchs in Anna eine leise, aber stetige unbewusste und undefinierbare Sehnsucht: Die Sehnsucht, sich selbst zu spüren. Doch da ihr wahres Selbst nie wirklich Raum bekam, blieb

ihr nichts anderes übrig, als nach Orientierung im Außen zu suchen. Viele Jahre später, als sie Lars traf, schien er diese ersehnte Sicherheit zu verkörpern. Er schien Jemand zu sein, der wusste, wo es langgeht, der führte und bestimmte. Was Anna jedoch nicht erkannte: Sie suchte weniger nach Lars als Person, sondern nach einer Antwort auf die unbewusste Frage, die ihre Kindheit hinterlassen hatte: Wer zeigt mir, wer ich bin?
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