Panikattacke in Rosa: Eine Beziehung wird zur Reinszenierung
Teil 2
Es beginnt wie ein Happy End
„Du bist es. Ich wusste es vom ersten Moment an.“
„Mit dir ist alles leicht, und gleichzeitig atemberaubend intensiv.“
„Noch nie habe ich so gefühlt. Es ist, als würde mein Herz zum ersten Mal wirklich schlagen.“
„Es war, als hätten wir uns schon ein Leben lang gekannt.“
„Er/sie wusste, was ich sagen wollte, noch bevor ich die Worte fand.“
„Ich habe mich noch nie so schnell so verstanden gefühlt.“
„Wir hatten sofort eine tiefe Verbindung jenseits von Worten.“
Wenn zwei Menschen sich begegnen und alles andere in den Hintergrund tritt, der Puls beschleunigt, jede Berührung elektrisiert, die Gedanken nur noch um den anderen kreisen, dann deuten wir diese körperlichen Reaktionen oft als „Liebe“, „Seelenverwandtschaft“ oder gar „Schicksal“.
Was wir als emotionales Hochgefühl erleben, ist neurophysiologisch betrachtet oft ein Zustand innerer Alarmbereitschaft, eine starke Aktivierung des autonomen Nervensystems, eine Übererregung. Für Menschen, deren frühe Bindungserfahrungen von Unsicherheit, Anspannung oder emotionaler Unklarheit geprägt waren, kann genau dieser Zustand vertraut wirken. Wenn das Nervensystem gelernt hat, dass Bindung mit innerer Alarmbereitschaft einhergeht, dann fühlt sich Anspannung wie Nähe an und Stress wie Zuhause.
Die körperlichen Symptome intensiver Verliebtheit: Herzklopfen, flacher Atem, Zittern, Unruhe, ein eingeschränktes Wahrnehmungsfeld, sind nahezu identisch mit den Reaktionen auf akuten emotionalen Stress. Doch weil sie in einem romantischen Kontext auftreten, werden sie nicht als Stress erkannt, sondern als Zeichen intensiver Verbindung. In Wahrheit ist es oft ein übererregtes Nervensystem – ein innerer Alarmzustand, der sich wie Leidenschaft anfühlt, aber ursprünglich aus einem alten Überlebensmuster stammt. Eine Panikreaktion – eingefärbt in Rosa.
Stellen wir uns vor, dieselben Symptome würden in einem überfüllten Zug auftreten, ohne offensichtlichen Auslöser. Wir würden sie nicht als romantisch empfinden, sondern als Zeichen von Angst.
Was bisher geschah…
„Kennst du den Platz zwischen Schlafen und Wachen? Der Platz, wo deine Träume noch bei dir sind? Dort werde ich dich auf ewig lieben, Peter Pan. Dort werde ich auf dich warten.“
Peter Pan
Anna und Lars begegneten sich kurz vor dem ersten Corona-Lockdown: Digital, über eine Dating Plattform.
Vom ersten Moment an entstand eine überraschend tiefe Verbindung: Nächtelange Gespräche, geteilte Sehnsüchte, das Gefühl, sich gegenseitig wirklich zu sehen. Nichts daran war oberflächlich – es war, als hätten sich zwei Seelen gefunden, die sich schon lange vermisst hatten.
Als sie sich schließlich persönlich trafen, war da dieses überwältigende Gefühl von Nähe. Magisch. Unmittelbar. Die Welt schien stillzustehen.
Für einen kurzen Moment fiel die „vierte Wand“, jene unsichtbare Barriere zwischen dem innersten Selbst und der Außenwelt. Was blieb, war das Gefühl, endlich erkannt zu werden. Endlich angekommen zu sein.
Der Beginn dieser Beziehung fühlte sich an wie die Antwort auf eine lebenslange Suche: Nach Liebe, nach Zugehörigkeit, nach Echtheit.
Doch was wie das Happy End wirkt, ist in Wahrheit erst der Anfang, denn mit dem Verschwinden der Euphorie beginnt die eigentliche Handlung.
Was in Staffel 1 – der Kindheit – als Überlebensstrategie entstand, wird in Staffel 2 zur Beziehungsgeschichte, denn in Staffel 2 begegnen sich nicht zwei erwachsene Menschen, sondern zwei innere Systeme, beladen mit alten Rollen, ungeheilten Verletzungen und tief verankerten Beziehungsskripten. Die Bühne ist bereitet.
Und dann war da plötzlich jemand
„Es war in der Anfangszeit von Corona, draußen wurde alles still, und drinnen wurde es einsam. Ich war in der Praxis sehr gefordert, alles lief irgendwie weiter, als würde man durch Watte gehen. Aber abends, wenn ich allein nach Hause kam, war da dieses leise Ziehen. So eine diffuse Leere, die sich nicht richtig benennen ließ.“
Anna streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wirkt für einen Moment versunken.
„Ich weiß nicht mal mehr genau, warum. Vielleicht war’s einfach diese Mischung aus Einsamkeit, Neugier und dem Wunsch, dass da irgendwo jemand ist. Irgendwann abends habe ich dann einfach eine Dating App installiert. Nur mal schauen, wie das so läuft. Und dann plötzlich war da sein Bild. Irgendwas an ihm war ruhig. Unaufgeregt. Sanft. Als würde er nicht gleich etwas von mir wollen. Ich weiß noch genau, wie ich dachte: Komisch… das fühlt sich vertraut an.“
Sie lächelt leicht, fast zärtlich bei der Erinnerung.
„Wir matchten und sofort war da ein ganz besonderer Ton zwischen uns. Keine Show, keine Oberflächlichkeit. Es war angenehm. Wohltuend. Tief. Wir haben wochenlang geschrieben, über Gott und die Welt, über Ängste, über Träume. Ich habe mich jeden Abend auf seine Nachrichten gefreut. Irgendwann haben wir dann unsere Handynummern ausgetauscht.
Ab da wurde es noch näher. Jeden Morgen ein ‚Guten Morgen‘. Jeden Abend ein ‚Schlaf gut‘. Es war, als hätte sich plötzlich ein unsichtbarer Faden gespannt, der unseren Tag miteinander verband. Ich habe das sehr genossen. Es war schön, einfach zu wissen: Jemand ist da.“
Ihre Stimme wird leiser, weicher.
„Lars war im Homeoffice und konnte sich seine Zeit flexibel einteilen. Ich war jeden Tag in der Praxis, erschöpft, leer, oft einfach müde vom Funktionieren. Und so kam es, dass er immer öfter bei mir auftauchte. Erst nur auf einen Kaffee. Dann blieb er zum Abendessen. Wir redeten viel. Es wurde schnell vertraut, fast selbstverständlich. Und irgendwann… war er einfach da. Jeden Tag. Es fühlte sich nicht fremd an, im Gegenteil, es fühlte sich an, als wäre er schon immer da gewesen.“
„Es lief alles so gut“, sagte Anna leise und ihre Stimme bekam diesen weichen Ton, den sie oft hatte, wenn sie sich in schöne Erinnerungen versenkte.
„Wir waren uns so nah, so präsent. Es war wie Nachhause kommen, leicht, selbstverständlich. Ich hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
Wir haben abends zusammen Netflix geschaut, sind stundenlang spazieren gegangen, haben gelacht, geredet, es war so intensiv. Auch körperlich waren wir uns sehr nah. Unser Sexualleben war leidenschaftlich, lebendig, irgendwie fast wie ein Rausch. Trotz meiner Müdigkeit nach der Arbeit hat mir das mit ihm Energie gegeben. Ich habe mich richtig wohlgefühlt, so richtig aufgehoben. Ich habe mich jeden Abend gefreut nach Hause zu kommen. Er war einfach da. Hat gekocht, wenn ich noch in der Praxis war. Hat gewartet. Wir haben so viele schöne Momente geteilt, dicht, warm, voller Nähe. Die ersten drei, vier Monate… es war ehrlich gesagt fast perfekt. Er ging eigentlich nur noch nach Hause, um sich frische Sachen zu holen. Geschlafen hat er fast jede Nacht bei mir. Nur wenn ich Bereitschaftsdienst hatte, blieb er manchmal in seiner Wohnung. Aber sonst… war er einfach da. Immer. Es war fast so, als wären wir schon längst zusammengezogen, ohne dass wir je darüber gesprochen hätten.“
Während sie erzählt, verändert sich ihre Haltung. Ihre Schultern sinken leicht ab, der Blick wird weicher, aber auch schwerer, als würde sie einen Schatten durch die Erinnerung streifen sehen. Die Worte kommen langsamer, fast vorsichtiger, als wolle sie sich selbst nicht unterbrechen.
„Und dann… kam dieser Moment. So plötzlich. Wie ein Schnitt mitten in all das Schöne. Ich weiß gar nicht, warum es mich so getroffen hat, aber es war, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Einfach so. Es war ein Montag. Carmen hatte angerufen, meine Studienfreundin aus Hamburg. Wir sind uns sehr nah, sie ist wie Familie für mich. Ganz spontan sagte sie, sie würde mich am Wochenende besuchen. Ich hab mich wahnsinnig gefreut, sie wiederzusehen. Es war schon ewig her und als sie anrief, bin ich gehüpft vor Freude.
Als ich aufgelegt hatte, drehte ich mich zu Lars und mit einem breiten Lächeln sagte ich: ‚Carmen kommt! Du lernst endlich meine beste Freundin kennen.‘ In meinem Kopf war das ein schöner Moment, fast wie ein kleines Geschenk. Ich habe mich gefreut, dass zwei wichtige Menschen in meinem Leben aufeinandertreffen.
Aber was ich dann sah war nicht Lars. Zumindest nicht der Lars, den ich bis dahin kannte. Kein Lächeln. Keine Reaktion. Nur dieser kalte Blick. Eisig. Und dann diese eine Frage, tonlos, fast mechanisch: ‚Wo schläft sie?‘
Ich weiß noch, wie mein Lächeln eingefroren ist. Es war, als hätte jemand das ganze Licht aus dem Raum genommen. Ich war so irritiert, dass ich kaum eine Stimme hatte, als ich sagte: ‚Na ja… bei mir natürlich. Aber wenn du willst, kannst du das Wochenende auch bei dir schlafen.‘ Ich wollte es leicht machen, es war doch nichts Großes. Dachte ich.
Was dann kam, hat alles verändert. Ohne ein weiteres Wort stand er auf, sammelte seine Sachen zusammen, sein Blick leer, wie aus Stein. Und dann ging er. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Abschied.
Und das war’s. Zwei Wochen lang. Stille. Keine Nachricht. Kein Anruf. Ich war überall blockiert. Einfach weg.
Diese zwei Wochen waren für mich wie ein freier Fall. Ohne Netz. Ohne Halt. Als hätte jemand mein Herz herausgerissen und es irgendwo hingelegt, wo ich nicht mehr rankam. Ich konnte nichts essen. Nicht schlafen. Ich war wie betäubt.
Ich habe es nicht verstanden. Ich habe versucht, ihn zu erreichen. Ich habe mir alles mögliche eingeredet: Vielleicht ist etwas passiert. Vielleicht braucht er nur Zeit. Vielleicht habe ich was falsch gemacht. Ich war verzweifelt.
Die Bühne der Beziehung
Was für Anna wie ein harmloser Moment erschien, ein freudiger Anruf, eine geteilte Nachricht, wird unbemerkt zum Startschuss für ein inneres Drama. Ein Wort. Ein Satz. Eine minimale Verschiebung in der Atmosphäre und plötzlich steht nicht mehr Lars der Partner vor ihr, sondern Lars der Junge. Verunsichert, verletzt, unerwünscht.
Die Bühne der Beziehung öffnet sich unbemerkt, unbewusst, ausgelöst durch innere Scheinwerfer, die instinktiv auf alte, verinnerlichte Rollen leuchten.
Für Anna ist es wie ein innerer Kurzschluss. Ihr ganzes System hatte erwartet: Er wird sich freuen. Stattdessen: Ein kalter Blick, ein fremder Tonfall, als wäre da plötzlich ein anderer Mensch vor ihr. Ihr Gehirn sucht verzweifelt nach einer Erklärung, doch nichts ergibt Sinn. Die Welt scheint für einen Moment stillzustehen, als hätte jemand die Realität angehalten. Weil sie das Verhalten nicht einordnen kann, beginnt ihr Inneres sofort, nach einem Fehler bei sich selbst zu suchen „Habe ich etwas falsch gemacht?“, „War ich zu fordernd?“, „Hätte ich es anders sagen sollen?“
Ein innerer Film beginnt abzulaufen. Immer wieder spult sie dieselbe Szene zurück in der Hoffnung, den Moment zu finden, in dem alles gekippt ist.
Annas Nervensystem kennt dieses Szenario. Nicht in Worten, sicher (noch) nicht bewusst, aber in Empfindungen.
Es hat früh gelernt: Wenn Nähe zerbricht, wenn jemand geht, dann war sie vermutlich der Auslöser. Dann hat sie nicht genug getan, nicht genug gespürt, nicht genug aufgefangen.
Vielleicht war es damals der Streit der Eltern, bei dem der Vater wutentbrannt die Wohnung verließ und Anna still hoffte, dass er wiederkommt. Vielleicht die Mutter, die wochenlang schweigend durch die Wohnung ging, weil die Schulnote nicht stimmte. Oder diese stille Enttäuschung, wenn Anna nicht so „brav“ war, wie es erwartet wurde. Keine dieser Szenen war dramatisch genug, um sich als „Trauma“ ins Gedächtnis einzubrennen. Doch sie haben sich tief in ihr System eingeschrieben, als unsichtbare Blaupause für Beziehung.
Wo Rollen entstehen – und was ein Trauma wirklich ist
Trauma bedeutet vor allem eines: Eine Unterbrechung innerer Prozesse und damit eine Trennung vom eigenen, authentischen Selbst.
- Ein Kind weint – doch niemand kommt, um es zu halten.
- Es hat Angst – und hört: ‚Stell dich nicht so an.‘
- Es ist wütend – und wird beschämt oder bestraft.
- Es ist lebendig – und bekommt zu spüren: ‚Du bist zu viel, zu laut zu nervig‘
- So entstehen Rollen – nicht aus freier Entscheidung, sondern als Überlebensstrategie.
Doch unter diesen Rollen bleibt etwas zurück:
- Gefühle, die nicht gefühlt werden durften.
- Wut, Angst, Traurigkeit… all das wird abgespalten, eingefroren wie ein angehaltener, innerer Film.
- Ein emotionaler Prozess, der nie zu Ende geführt wurde.
- Ein innerer „Download“, der irgendwann gestoppt wurde und bis heute auf Fortsetzung wartet.
Und genau da beginnt das Prinzip der Reinszenierung.
Wenn heute etwas geschieht, das unbewusst an diesen alten Moment erinnert, dann versucht unser System, den damals abgebrochenen inneren Prozess fortzusetzen.
Anna fällt in genau so einen Moment.
Als Lars plötzlich verschwindet, reagiert Annas System nicht wie das einer erwachsenen Frau, sondern wie das eines kleinen Mädchens, das plötzlich allein in der Welt steht.
Denn auf genau diese Erfahrung ist sie nicht vorbereitet.
Für dieses plötzliche Verschwinden hat ihr System keine geeignete Rolle.
Kein Schutzprogramm, das greift.
Denn sie kennt diesen Schmerz nicht – so nicht.
Als Kind wurde sie vielleicht ignoriert oder übersehen, aber nie hat jemand sie einfach von jetzt auf gleich verlassen.
Dieses plötzliche Alleinsein ist neu – und überwältigend. Deshalb fühlt es sich nicht einfach nur wie Verlust an, sondern wie ein Sturz in einen Abgrund, für den es keine Worte gibt.
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